die tageszeitung

Berlin, 12./13.4.1997

In Essen nicht ibizen

Rückblick auf ein paradoxes Werk:
Genf und Mönchengladbach zeigen die Arbeiten des im März gestorbenen
Künstlers Martin Kippenberger


von Ulf Erdmann Ziegler


Wenn es heißt: Kunst oder Alltag, hat Kippenberger immer den Alltag gewählt.


Er wußte, daß man statt Kunst Rock 'n' Roll machen kann oder Schach spielen. Aber Martin Kippenberger machte Kunst - kleinteilig und großkotzig, plump und verstiegen, meistens alles zugleich; aber vor allem in den bekannten Genres Malerei, Skulptur, Zeichnung und Fotografie. Für einen Künstler, der am Ende seines kurzen Lebens treffend beobachtete, daß ihn alle kennen, nur sein Werk nicht, ist die Konventionalität des Werkes das erstaunliche Resultat einer Retrospektive.

Kippenbergers Arbeit ist fern von Multimedia und benutzt in keiner von mehreren hundert Arbeiten Video oder Sound. Angenommen, Kippenbergers Kunst sei gegen Traditionen gerichtet, so ist sie dennoch diesen Traditionen eingeschrieben. Das Areal, das er sich für seine Regelverletzung abgesteckt hat, ist weitläufig, aber letztlich überschaubar. Wer also ins Genfer Musée d'art moderne et contemporain (Mamco) kommt, um zu prüfen, ob die Bilder an der Wand hängen, die Skulpturen auf dem Boden stehen und die Zeichnungen ordentlich gerahmt sind, wird gewiß nicht enttäuscht.

Sein Prinzip war die Verballhornung. „Lieber Bekanter!" ließ er vor einigen Jahren auf einer selbstgemachten Karte verlauten, „Kennst Du schon den Unterschied zwischen Essen und Ibiza / -?-: in Ibiza kannst Du essen, / in Essen aber nicht ibizen".

Ich mußte also an André Thomkins denken, der so viele Jahre in Essen wohnte, daß er haßte und, weil er nicht wegkonnte, „Fressen" nannte. In eine seiner Zeichnungen hatte er geschrieben: „Das Paradox wird lebend geboren." Kippenberger: Drei große Blockbuchstaben in unterschiedlichen Holzmaterialien lauten „ZYX" und bezeichnen, als Relief, „Das Ende des Alphabets". Vorausgesetzt, man liest von rechts nach links. Eine „Pyramide Colonia", kniehoch, ist rundum mit Rollen ausgestattet und stellt (umgeworfen) auf der quadratischen Unterseite eine grobe Farbfotografie aus, die in einer westdeutschen Innenstadt einen leeren Schaukasten zeigt. Ein „Hochhaus für Hühner" besteht aus gestapelten Kastenformen, die nach oben hin kleiner werden; aber nur das Erdgeschoß hat eine Öffnung.

Dies sind drei Beispiele aus einer großen Gruppe von Skulpturen, die in einem langgestreckten Fabrikraum des Mamco dargeboten sind, auf Steinboden und bei reichlich Seitenlicht. Angefangen mit einem aus Industriepappe geschnittenen, riesigen Neptun-Zeichen, das schräg von der Decke hängt, bis zum rückläufigen Alphabet „ZYX" an der gegenüberliegenden Stirnwand ist dies ein Skulpturenraum von professionellem Zuschnitt, der allein über die Verteilung der Volumen, der Tonwerte und der Dichte der Materialien als gültige museale Installation gelten kann. Es ist nicht (wie bei der Aufbereitung von Beuys durch seinen gestürzten Engel Heiner Bastian) die posthume Glättung. Kippenberger war dem Leiter des Genfer Museums, Christian Bernard, schon lange verbunden und war zur Eröffnung - bereits im Rollstuhl - noch dabei. Er starb am 7. März in Wien.

Die meisten der Skulpturen sind abgründige Varianten auf das in den achtziger Jahren so kunstgängige Motiv der Kiste: ein schwarzer Latexschrank, ein fahrbarer Ytong-Turm mit seitlicher Zierverputzung sowie einige aufwendigere Behälter, die in vernageltem oder vitrinenartig geöffnetem Zustand den Kunsttransport zitieren. Auf die lange Länge des Saals gesehen, gibt es ein Gefälle von groß zu klein, von lyrisch zu brachial. Auf der lyrischen Seite, zum Beispiel, eine Museumsvitrine, durch deren Glasetage Halme gestreut sind, die in fotografischer Technik Birkenmotive wiedergeben. In den Horizontalen liegen gewaltige Pillen in diversen Formen aus akkurat geschliffenem Naturholz. Die Arbeit könnte man, dank ihrer Perfektion, mühelos dem Werk eines (einer) anderen einverleiben.

Nicht aber, auf der anderen Seite des Saals, „If you don't know me by now - Modell Artschi Baby Puppi". In eine Sportkarre ist vertikal ein Ding gelegt, das aussieht wie eine Axt aus der Bronzezeit. Bei näherem Hinsehen hat das dünne Ende Schweinspfoten. Das andere Ende könnte eine Schulter sein. Die Sportkarre mit dem bronzenen Tierbein ist mit der Hinterachse hochgestellt auf einen primitiv geschreinerten Kasten, der rundum bezogen ist mit einem Teppich. Über sein grau-weißliches geometrisches Muster in Acryl erinnert er an die düstere Seite des Kleinbürgertums. So tastet er sich vor, von der Designparodie zur Kunstparodie, von der Aura zur Auralosigkeit, vom Labyrinthischen zum Planen. Plötzlich sehe ich darin die Lebenswelt des Kindes aus dem Ruhrgebiet, das falsche Himmelblau und das echte Puffrot, der Sperrmüll als Haushalt der Armen und der Haushalt des Mittelstands als hochentzündlicher Industrieausstoß. Wenn es heißt: Kunst oder Alltag, hat Kippenberger den Alltag gewählt. Werkstoff und Abfall (anders als in gutgehenden Firmen oder Ateliers( sind aufs unheimlichste miteinander verwoben. Viele Arbeiten bleiben ohne die Titel unverständlich („Hühnerdisco"). Die Kunst erscheint als weites Meer, und die Sprache ist Kippenbergers Dampfer. Die Retrospektive nennte Kippenberger „Respektive". Seinen Tod vorausahnend, datiert er sie „1997 bis 1976!" rückwärts wie das Alphabet.

Nicht jedem hat Kippenbergers Insistieren im Klein-Klein eingeleuchtet. „Die krampfig-witzigen Baltelarbeiten der letzten Jahre strotzen von einer harmlosen Intellektualiltät (sic!), die auch vor der Ausstellung und Publikation kleinster Einfälle nicht zurückschreckt", notiert Wolfgang Max Faust im Wolkenkratzer 1989. In einem Buch des Mamco, das zwei ausführliche Interviews enthält („Kippenberger sans peine/Kippenberger leichtgemacht"), schildert der Künstler seinen Ansatz so: „Immer ans Eingemachte ran, an Sachen, die so nahe liegen, daß du gar nicht drauf kommst" - außer natürlich Kippenberger.

Er wurde 1953 in Dortmund geboren, 1956 zog die Familie nach Essen. „Bei uns", erinnert er sich, „hingen Grafiken von der Fußleiste bis zur Decke: Werke von Beckmann, Corinth, Heckel (....) , Marino Marini, Picasso und viel Kitsch." Der Vater nahm die Kinder mit ins Folkwang Museum, wo sie ihm „das beste Bild" zeigen sollten, „da kam man schnell zu Franz Marcs Pferden", und der Opportunismus wurde mit einer Mark entlohnt. Kippenbergers ganzes Werk stellt sich gegen eine Kunstproduktion, die auf den Sonntag fixiert ist, die das Terrain jenseits von Arbeit und Ökonomie bedeuten soll. Er wollte „keine Kunst für Zahnärzte" machen; hat aber die Zahnärzte unterschätzt.

Dabei kehrt Martin Kippenberger das Prinzip von Zeichnung und Gemälde um: Die Zeichnungen - in Buntstift, Bleistift und Kugelschreiber ausschließlich auf den Briefbögen besserer Hotels - sind detailbesessen bis penibel. Selbstproträt als lila Weihnachtsmann mit (S/M-)Lederstiefeln auf dem Papier des Four Seasons Hotels in Washington D.C. Seine geborgten Motive passieren Revue: Nachtszenen aus dem film noir, groteske Männchen aus Comics und Anzeigen. Seine bizarre Obsession: Eier und Straßenlaternen. Die Gemälde lassen allenfalls zu Beginn ein Projekt ahnen.

In einem aus 43 Einzeltafeln montierten Paneel „Uno di voi un Tedesco in Firenze" skizziert der 23jährige, gerade der Hamburger Kunstakademie entlaufen, Lieblingssujets eines Touristen: Stadt- und Barszenen, Schrift- und Symbolzitate, Postkarten und Alte Meister. Daß alle Szenen in Grau gemalt sind, zeigt, wie Kippenberger sich noch an Gerhard Richter orientiert. Die Motive sollen aussehen wie aus dem Album des eifrigen Fotoamateurs. Später - damit eröffnet die Ausstellung in Genf in der vierten Etage, und von dort geht man im Fabrikgebäude abwärts - kommen große farbige Motive dazu, zum Beispiel eine hochformatige Straßenszene aus Düsseldorf, die zwei linkische Figuren lebensgroß in einer Teleperspektive von hinten zeigt. Ich glaube, sie suchen eine Bar.

Die grobe Aneignung der „täuschenden" Malerei Richters steht Kippenbergers Interesse am Klischee recht gut. Dann aber klinkt er sich ein im neuen deutschen Mainstream von Ina Barfuss und Thomas Wachweger, die er sammelt, einer eklektischen, symbolhaften Malerei mit expressivem Gestus; retrospektiv ist diese Richtung motivisch beherrscht von Kippenbergers Freund Albert Oehlen und in ihrer graphischen Abstraktion von New Yorker Malern, Caroll Dunham und Jonathan Lasker, zugespitzt worden. Daß Kippenberger ohne den Anflug einer Selbstkritik im Dutzend produziert, sieht man schon an den den immer gleichen Formaten. Später kommen, als Variante, Reliefbilder aus monochromem Latex dazu, die in ihrer enervierten Fadheit immerhin glaubhaft sind.

Eine zweite Ausstellung ist geadelt durch Kippenbergers Mitarbeit vor seinem Tod: „Der Eiermann und seine Ausleger" im Museum Abteiberg in Mönchengladbach. Eine der von mehreren überraschenden Arbeiten dort ist das „Spiderman-Atelier", ein als Bühnenraum errichtetes Malerstudio in einer engen Mansarde. Darin sind Bilder plaziert, die als Kombination von Wort- und Farbfeldmalerei im Oevre von Kippenberger neu sind. Spiegelbildlich wie Spielkarten bezeichnen sie die Ingredienzen seines eiligen Zerfalls: Haschisch/Pot, Schlaftabletten/sleeping pills, (etwas listiger) speed/deeps und (als Überraschung) red wine/and you. Es ist die einzige zärtliche Regung, die ich im Werk dieses Mannes entdecken konnte.

Auf der Genfer Einladungskarte erscheint er als kniende Figur mit nacktem Oberkörper, mit ausgebreiteten Armen in den Himmel schauend wie ein scheuer Jünger in Erwartung des Pfingstwunders. Die Fotografie stammt von der Modefotografin Elfie Semotan, mit der er die letzten 368 Tage seines Lebens verheiratet war. So, als Darsteller seiner selbst, wird Kippenberger in Erinnerung bleiben. Sein starrer, ventilierender Körper, seine in Selbstzerstörung sich feiernde Männlichkeit hatten wirklich Stil. Also genau das, was er nicht ausstehen konnte bis auf den Tod.

©Ulf Erdmann Ziegler 1997