DIEDRICH DIEDERICHSEN

aus: Der Komplex Kippenberger

Texte zur Kunst Nr. 26,
Juni 1997


Das Prinzip der Verstrickung:

Martin Kippenberger und seine Rezeptionen

Beim Tod eines Bildenden Künstlers wird selten als erstes die Frage gestellt, ob dieser ein guter Mensch gewesen sei. Wenn es überhaupt Anlässe gab, diese Frage interessant zu finden, überließ man ihre Beantwortung in der Regel den (Jahre, Jahrzehnte) später nachgereichten Biopix, die in der Regel nur zwischen Opfer (Basquiat, Van Gogh), Täter (Picasso) und Warhol (beides) unterscheiden können. Hat irgend jemand gefragt, ob Buthe, De Kooning, Flanagan, Gonzalez Torres, Wilke, um nur die unlängst verstorbenen KünstlerInnen zu nennen, die mir zuerst einfallen, gute Menschen waren?

Doch ist eine Konjunktur zu beobachten aus der zuweilen naheliegenden, zuweilen mit allen Mitteln forcierten Konfrontationen wie Konvergenzen von Feldern spezifische Kicks zu beziehen. So wird das Verhältnis von Politik zu Kunst - sei es das Politisch-Sein der Kunst (das Verhältnis der Arbeit selbst zu ihrer Politizität oder die Grenzen ihrer Interpretierbarkeit z.B.), sei es jene Politik, die innerhalb des sozialen und ökonomischen Feldes der Kunst gemacht wird (wer stellt wen wann und warum [nicht] aus z.B.), sei es die Politik, die mit Kunst im Rahmen eines aktivistischen Kunstverständnis (von Symposien bis Blockaden) oder als Mainstream-Politik (das zu Blockierende veranstalten, Museen bauen, Holocaust-Denkmal-Debatte) arbeitet - jetzt immer öfter auch in bezug zu einer, selten auch ausgesprochen so genannten ethischen Seite diskutiert. Den Beteiligten wird etwa ein immer schon egoistisches Interesse (Geld oder das in letzter Zeit so viel bemühte „kulturelle Kapital" anzuhäufen, „Politik zu machen") unterstellt, oder ein Handeln in einem bestimmten Zusammenhang (Mainstream-Politik) wird durch die moralische Diskreditiertheit der betreffenden Institutionen als ethisch abzulehnendes ausgemacht.

Beide Beispiele (und einige ähnlich gelagerte andere) sind als heuristisch notwendige Grund- und Zwischenannahmen und -befunde im Prozedere einer materialistischen und soziologischen Kunstbetrachtung durchaus verständlich. Aber so wie auch diese zuletzt immer mehr dazu tendierte, nichtsoziologische Aspekte der Kunstproduktion gar nicht mehr zu berücksichtigen, verschenken viele KritikerInnen ihren Materialismus an ein unterkomplexes Modell der Rolle des Ethischen innerhalb des Zusammenhangs Politik und Kunst: an das der persönlichen Schuld und Verantwortung.

Gerade bei Martin Kippenberger jedenfalls wußte es der Nachruf der taz dann aber ganz genau: „Er war kein guter Mensch", lautete das eine von zwei zentralen, dem Verstorbenen hinterhergerufenen Urteilen. Woher kommt diese zu eindeutigen Urteilen berechtigende, zugemutete Zuständigkeit für richtiges Leben und gutes Verhalten, die man keinem Rückriem, Richter oder Rauschenberg je in die Nekrologe hineinzuweben sich trauen wird? Ist die Verunsicherung darüber, wofür Künstler und Künstlerinnen verläßlich und positiv zuständig sind, und die Sicherheit der letzten Jahre, daß das mit der politischen Zuständigkeit zumindest schwieriger ist als manche dachten, dahin umgeschlagen, daß man nun dafür mit Sicherheit zu wissen glaubt, daß der Rezensent ausgerechnet im Bereich der Moral, des persönlichen Verhaltens sein glasklares Resümee unter ein Leben setzen muß? Nein, es ist wohl eher eine Besonderheit der Kippenberger-Rezeption, mit der wir es hier zu tun haben. Für diese Besonderheit charakteristisch sind Unverbundenheiten, Diskontinuitäten und Unübersetzbarkeiten einerseits zwischen den „Welten", die Kippenberger rezipierten, also meinetwegen Feuilleton und Avantgarde-Kunst, Köln und Berlin, diversen Szenen, die vorher und nachher nicht viel gemeinsam hatten, außer Kippenberger zu kennen und in irgendeiner diffusen Weise an ihm interessiert zu sein. Zudem wiederholen sich diese Verhältnisse zwischen Gegenstand und Bearbeitung, zwischen den Ebenen, in denen unterschiedlich situierte und kontextualisierte Aussagen und Formalisierungen auch gerade dann nur lesbar und verständlich sind, wenn eines ihrer ebenso offensichtlichen Ziele, das Relativieren oder vielleicht sogar Aufheben der Grenzen zwischen diesen Ebenen ist.

Daß Kippenbergers Arbeit ständig durch bloßes Anschneiden oder Benennen von Zusammenhängen Wespennester öffnet und Fallen stellt, in die KritikerInnen genauso tappen wie zuweilen er selbst, und daß Eigenschaften seiner Gegenstände als Eigenschaften der Diskurse über ihn wieder auftauchen, gehört zu den allfälligen Subtexten der Verstrickung, die seine Rezeption - nicht ohne sein Zutun - geprägt haben. Diese sorgten für spezifisch engmaschige Verbindung zwischen Ebenen wie „Werk", „Soziales", „Gerücht", „Interviewstatement", „Katalogstatement" etc., was aber nicht heißt, daß man sie nicht mehr unterscheiden können sollte. Der Zuwachs an Diversität und Heterogenität und deren Genuß konnte nur funktionieren, wenn es bei der Emulsion blieb und nicht zur Verbindung kam. Vielleicht galt dies auch im Sozialen: Wie attraktiv seine Veranstaltungen für Menschen unterschiedlichster politischer und ästhetischer Provenienz waren, läßt sich daran ableiten, wie viele sich selbst in den Jahren noch auf Gruppenfotos (als Einladungskarte) oder für Fotohefte der Lord Jim Loge nebeneinander zeigen, als die Spannkraft des von Kippenberger geschaffenen Zusammenhangs schon etwas erlahmt war.

Viele, die im nun vor ihnen liegenden Leben wohl kaum noch viel mehr miteinander zu tun haben werden, bezogen stabilisierende und anregende Momente aus diesen Treffen: die keine Lektüre voraussetzende Teilnahme an avanciertem Austausch zu ästhetischen Fragen. Allerdings nicht ohne mitunter einen sozialen Preis zu zahlen. Dieses soziale Phänomen verwirrte die Rezeption von offizieller Feuilleton- (Frankfurter Allgemeine Zeitung, Frankfurter Rundschau, Die Woche) und weitgehend auch linker Kunstkritik (taz, Konkret etc.), die beide so schon genügend Schwierigkeiten mit zeitgenössischer Kunst haben (von ausschließlich mit einer durch keinerlei Nebenstrategien gestörten, rein inhaltlich konsumierbaren und der „natürlichen" journalistischen Hermeneutik entgegenkommenden Sorte von Fotokunst einmal abgesehen).

Hier bot „die Kunst", die ja in einer literarisch-poetischen Tradition, die Kippenberger auch nicht gerade von sich wegschob, gern mit ihren sozialen Symptomen und Begleitumständen identifiziert wird, sozusagen freiwillig einen Bezugsrahmen für Interpretationen, der in der greifbaren, großstädtischen Wirklichkeit von Kneipen und Restaurants äquivalent zu Dietl-Filmen im Fernsehen zu funktionieren schien. Was lag näher als dieses Angebot anzunehmen? Doch auf der anderen Seite lebt gerade der voyeuristische Genuß am sozialen Exzeß der Künstler von der Annahme, daß er eigentlich verborgen sei und eine andere Seite, die Kunst selbst, als die offizielle gelten soll. Der Journalist, der eingeweiht wird, ist besonders entsetzt, wenn er herausfindet, daß er in nichts Geheimes eingeweiht wurde; und weder die Kneipe über die Kunst noch umgekehrt etwas Verborgenes herauszufinden helfen. Bei Rückriem und Klauke konnte man dagegen weder vom Kneipenverhalten auf die Kunst noch umgekehrt schließen. Daß weder diese Zweiteilung noch ein emphatisches Leben-ist-Kunst-Bekenntnis - wie etwa bei Beuys - bei dem mit Kippenberger assoziierten Zusammenhang herstellbar war, wurde ihm dann wieder als Unseriosität übel genommen. Er hat in hohem Maße die sozialen Bedingungen, die unmittelbare Umgebung, den Kunstmarkt, die Kunstgeschichte und andere Metathemen zu Gegenständen von Kunst gemacht, aber er hat das Spezifische der jeweiligen Ebenen in seinen Arbeiten berücksichtigt.

Allerdings waren es auch nicht einfach nur die zwei, Kunst und Alltag (Leben), sondern Mischformen und unterschiedliche Eigentlichkeits- und Wichtigkeitsgrade, die je neu zu bestimmen ihm ein Anliegen war. Daß es der auratische Kunstdiskurs jedoch nicht sein sollte, hat er häufiger betont. Diese je wieder neu zu treffende Bestimmung von Status und Rahmen wurde aber schließlich nur noch als Ununterscheidbarkeit dieser Ebenen wahrgenommen. Der Schatten dieser Nichtunterscheidung fiel zuweilen auf sein ganzes Unternehmen. Möglicherweise zeigte es auch eine Schwäche an, einen zu optimistischen Glauben daran, in Bezirken zwischen Leben und Kunst voluntaristisch immer wieder neue Bedeutungsrahmen stiften und die Macht der vorhandenen und ja auf gesellschaftliche Macht gestützten Rahmen ignorieren zu können. Wenn ich sage, dies ist kein Bild in einem Museum, sondern ein Interview-im-Radio-als-Parodie-auf-Process-Art-als-Bestandteil-einer Gruppenausstellung-am-anderen-Ende-der-Welt und vielleicht auch noch eine Parodie auf solche willkürlich gesetzten Rahmen, kann ich nicht verhindern, daß die Leute in erster Linie doch den Bildinhalt „lesen" und sie alle möglichen mächtigen gesellschaftlichen Rahmen dazu auch ermutigen. Was nicht heißt, daß man daran nicht weiterarbeiten kann und muß.

Noch wichtiger aber scheint für die Kritik zu sein, auf welcher Seite einer Front einer steht, die diese selbst zwar nur unbeteiligt beobachtet, aber gerade deswegen klare Verhältnisse von den beobachteten Kombattanten verlangt. Bezeichnend für das Doppelmoralische an gerade in solchen Fragen moralisch argumentierenden Vorwürfen war die paradoxe Argumentation, die Kippenberger einerseits zynisches Heranschmeißen an Kunstmarkt und Institutionen vorwarf und andererseits, daß kein anständiges Museum seine Arbeiten zeigen und er die Galerien mit seiner unverkäuflichen Überproduktion zustopfen würde. Noch weiter verbreitet aber ist der Konsens, daß er eigentlich sowieso eher ein Spaßmacher, Jongleur, großes Kind, ein Unechter, Heizefeitz, Parodist, Sarkastiker, Zyniker, Scharlatan und wie die freundlichen oder unfreundlichen Zuschreibungen auch immer lauten mögen, gewesen sei, der seine künstlerischen Projekte nur nebenher verfolgt hätte. Dem zu abwechslungsreichen und zu unterhaltsamen Programm wurde eben deswegen unterstellt, daß seine sehr diversen und formal, materialbezüglich, inhaltlich etc. heterogenen Arbeiten nicht wirklich heterogene und diverse Absichten auf verschiedenen Ebenen und in unterschiedlichen Rahmen, sondern vielmehr kein Programm verfolgt hätten. Dieses aber sei im wesentlichen lustig (oder zynisch) gewesen.

Diese Einschätzung, die auch in seinem näheren Umkreis viele geteilt haben dürften, war das Gerücht, das über diesen ansonsten schwierigen - im Sinne von: arbeitsaufwendigen, fordernden, komplexen etc. - Künstler an die verschiedensten publizistischen und Multiplikator-Ohren gedrungen ist, dessen nähere Bestimmung dann anschließend je nachdem als sensationell-schrill, ethisch- oder politisch-abstoßend oder tabubrecherisch-provokativ nachgereicht werden konnte. Nun ist dieses Mißverständnis wie schon die anderen auch durchaus verständlich: Zum einen war der soziale Trubel ja ein massives Phänomen, und solche registriert das Sensorium des Tagesjournalismus nunmal als erstes - und daß es keinen Kunstjournalismus gab, der das „Phänomen" anderweitig aufgriff und weiterentwickelte, kann man denen, die nur den sozialen Lärm hörten, nicht zum Vorwurf machen. Zum anderen griff Kippenberger dieses Phänomen und seine Resonanz dankbar als Material auf und beteiligte sich selbst an der Produktion seines Image als der Mann, der in Brasilien eine „Martin-Bormann-Tankstelle" eröffnet, über das Image des Architekten einer Diskothek für echte Hühner als maßstabgetreuer Nachbau des Kölner Galerienhauses von Oswald Matthias Ungers oder als der Fahrer des Eiermann-Mobils, mit dem er zuletzt durch das Burgenland kurvte. Er konnte das in der selbstbewußten Sicherheit tun, daß er als Künstler gut genug war, um Eindimensionalitäten nicht aufkommen zu lassen.

Im Gegenteil, die reduktionistische, aber nicht ganz zufällige Spaßprogramm-Rezeption war für eine weitere Dimension gut: Ahnungslose, groteske und billige Reaktionen waren doch durchaus von demselben Stoff - unmögliche Strukturen, Sequenzen, die nur das kontingenteste aller Leben selbst schreiben kann -, den er eh ständig suchte und verarbeitete. Resonanz in Haarwasch-Werbung, komische Kritiken im Kölner Stadt-Anzeiger und der empörte Brief eines Zeugen eines, wohl auch tatsächlich unerträglichen Kippenberger-Auftritts wurden sofort weiterverarbeitet und als Plakate, Inserts und Katalogtexte einbezogen. Erst in den letzten Jahren kümmerte sich Kippenberger in Interviews und der Auswahl der Gesprächspartner mehr um eine Rezeption jenseits der Spaßnummer. Zu diesem Zeitpunkt war zwar die 80er-Jahre-Rezeption nicht mehr zu korrigieren, aber er versuchte eine Gegenrezeption am Leben zu erhalten und zu stärken, wo es ging. Die Einfälle waren auch nicht mehr so leicht nur brillant, komisch oder abstoßend zu finden: Das weltweite U-Bahn-System, die Tische mit Dialogen im Rotterdamer Museum, die die Schlußszene von Kafkas „Amerika" illustrieren sollten, der Kunstverein auf einer ägäischen Insel - das waren Einfälle, die sich nur umständlich erzählen ließen, den Vor-Ort-Besuch verlangten und in ihrer Langfristigkeit und Monumentalität wie eine melancholische Anknüpfung an - ebenso wie natürlich ein Amüsement über - all die riesigen, gleichartigen, insistierenden Lebenswerk-Konstruktionen von Christo bis Stockhausen darstellten.

Die Ergebnisse dieser Erweiterungen, Neuorientierungen und Korrekturen werden in der Rezeption aber wohl erst jetzt, nach seinem Tod, seinen großen Ausstellungen in Mönchengladbach und Genf sowie diversen kleineren, etwa in Berlin und Zürich, sichtbar werden. Die intensivste Reaktion auf seine Arbeit spendierte das Tageszeitungsfeuilleton jedenfalls weder seinen absoluten Highlights (die „Peter"/„Petra"-Serie um 87/88 z.B.) noch seinen nach konventionellen Kriterien wichtigen, großen Ausstellungen im Ausland (San Francisco, Rotterdam), sondern in seltsamer Einigkeit ausgerechnet einer aus lokalen kulturpolitischen Gründen umstrittenen Ausstellung in Potsdam vor drei Jahren. Plötzlich nahm nicht nur die bürgerliche Presse wie eh und je stereotyp „Provokationen" wahr, die sie nun aber lahm und nicht mehr provozierend fand (weswegen die Artikel dann auch größer und länger ausfielen), sondern auch die linke und Stadtzeitschriften-Szene war jetzt auf die vermeintlich provokanten Inhalte - oft von immer wieder erwähnten Arbeiten der frühen 80er, die gerne in den Artikeln auch umdatiert wurden - eingestiegen, um nun aber, wo man ja mittlerweile wußte, daß der Tabubruch auch und gerade ein potentiell rechtes Medienwerkzeug geworden war, in Kippenberger den immer schon schlechten Menschen zu entdecken.

Daß Kippenberger tatsächlich, milde gesprochen, nicht gerade ein Antisexist war und ebenso oft wie er große Gesellschaften mit großen Witzen und Improvisationen, die so freundlich wie bösartig, aber oft treffend waren, unterhalten konnte, dieselben Gesellschaften, indem er sie zwang, zwei, drei Stunden später alles noch mal anzuhören, auch peinigen und beleidigen konnte, half den von einem einzigen, einheitlichen, Leben und Kunst umfassenden Projekt ausgehenden, darüber hinaus überhaupt keinen Unterschied zwischen dem Status von Kunst- und Alltagsäußerungen erkennenden und auch dann nicht würdigenden Schnitzereien dieses Kippenberger-Bildes eine gewisse Plausibilität und Evidenz vor allem für diejenigen herzustellen, die von Ferne, und keineswegs immer aus antisexistischen Gründen, sondern oft eher aufgrund altspießiger Vorstellungen von Grenzen des guten Geschmacks immer schon angewidert oder irritiert gewesen waren. Seine Stand-Up-Komik war zwar vor allem grotesk, ohne willkürlich zu sein, sie folgte den Regeln seines verschliffenen Slang und der Poesie, die dessen abgefeilte Konsonanten auch ohne größere Gestaltungsbemühung zur Verfügung zu stellen schienen.

Die Tragik aber der Ersetzung aller Regeln durch idiosynkratische Regellosigkeit besteht nunmal in der Freiheit, die sie sich nimmt, auch den allerblödesten und manchmal fürchterlichsten Regeln dann doch wieder zu folgen: eben den ganz tief sitzenden Konventionen, die sie als solche nicht erkennt oder die als blinder Fleck Voraussetzung der Befreiung sind, die eben immer nur Teilbefreiungen sind. Daß es ein im Ganzen eher harmloses Prinzip Kippenbergers war, sich das jeweils offensichtlichste soziale Merkmal einer eintretenden Person zum Anlaß seiner jeweiligen Reaktionen zu machen, mag manche rassistische oder anderweitig beleidigende Zumutung vielleicht ein wenig mildernd erklären; weniger leicht geht das sicher bei seinem Insistieren und Arrangieren dessen, was nicht nur er, sondern auch weite Teile des Inner Circle mit Begeisterung die „Hierarchie" nannten. Auf diesbezügliche Einwände hörte man oft, daß es eine Hierarchie doch überall gäbe und es besser („ehrlicher") wäre, wenn sie ausgesprochen und offen verhandelt würde. Daß aber das, was eh schon vorherrscht, von jeder Bestätigung, auch der gebrochenen nur noch stärker gemacht wird, war in den frühen 80ern Jahren noch wenig bekannt. Viele merkten es aber auch später nicht oder wollten es nicht merken. Kippenberger hat auf anderen, darunter künstlerischen Ebenen aber - und man kann oft sagen als allererster - erfolgreich darstellen können, was diesem sozialen „Fehler" zugrunde lag.

Wann immer ein konventioneller Rahmen im Namen eines Anarchismus gesprengt wird, übernimmt eine noch tiefere, unreflektierte Konvention zum Teil die Regelung des nun Ungeregelten. Genau dieses Kernproblem, daß die Anarchie am Ende nur immer die Regeln reproduziert, die ihre Vertreter soweit naturalisiert hatten, daß sie sie eben nicht als Regeln haben erkennen können, war in der Kunst sehr oft genau Kippenbergers Thema: die konventionellen Elemente des Tabubruchs, die spießigen Seiten der letzten Neo-Avantgarden. In den schon erwähnten Ausstellungen der „Peter"/„Petra"-Serie in den letzten der 80er Jahre war es zum Beispiel darum gegangen, in fast sequentiell an historisch oder zeitgenössisch mit theoretischem und publizistischem Avantgarde-Brio bepackten Objekten immer neue Lektüreebenen und -vorschläge einander folgen zu lassen. Berühmte Beispiele, wie das zum Tisch gewordene monochrom-graue Richter-Original, das auf vielen, argumentative, ebenso wie anekdotische Strukturen stützenden Wegen von den großen Behauptungen der Moderne und der Postmoderne weg und wieder zurückmäandert, haben den Nachteil, nicht mit zum Ausdruck zu bringen, daß man sie unter circa dreißig Objekten ihresgleichen suchen mußte. Sie traten nicht wichtig auf und sperrten sich auch dagegen, als bloß durch die Birne gerauschte Nebenjokes einer Spaßüberproduktion verstanden zu werden.

Das heißt nicht, daß es keine Leichtigkeit gab, aber niemals den idiotische Glauben, daß eine solche Eigenschaft, Idee allein der Rede wert ist Es ging bei den Arbeiten der „Peter"-Serie um fast schon kunstkritische, textähnlich aufgebaute Auseinandersetzungen mit anderen und eigenen Positionen. Er wählte hier und bei vielen anderen Werkgruppen das nicht seltene Mittel der Profanierung, aber nicht um Arthur Danto umzudrehen oder den Freunden von Duchamp-Anekdoten und Andersen-Märchen einen Gefallen zu tun, nicht im Dienste der zu einfachen Operationen von Enthüllung und Denunziation, sondern weil genau die Schicht oder Seite jeder Innovation im engen Sinne, wenn nicht jeder Gelungenheit schlechthin, die mit der Bestätigung der zu jeder Innovation (oder Idee) nötigen (falschen) Konvention gehört, meist in den Bereich des Banalen und der wirklich häßlichen, abjekten Probleme gedrängt wird. Daß z.B. an die Stelle gelungen vernichteter, sozialdemokratischer Didaktizismen Biertisch-Sexismen treten, konnte in der Kunst eben verhandelt werden, in der Wirklichkeit nicht, weil beide Ideologien in der Wirklichkeit sich weigerten, als Gegenstände zur Verfügung zu stehen, statt dessen aber als wirkmächtige Ideologien dazu neigen, über die Personen zu verfügen.

Anders war es aber einem gut aufgelegten Kippenberger durchaus möglich zum fast schon bildlich soziologischen Gegenstand seiner Arbeit zu machen, wie z.B. jenes monochrom-graue Richter-Bild in Verbindung mit seinem modernen und postmodernen Behauptungs-Gepäck die ästhetisch-soziale Strategie der Wahl eben dieses Grau ideologisch verschweigt. Kippenberger hat viele Arbeiten gerade darüber gemacht, daß die Diskussionen um diese Ausscheidungen noch gar nicht angefangen haben. Und nicht dadurch in Gang gesetzt werden kann, wenn man diese Seiten/Schichten einfach nur ideologiekritisch ausleuchtet und zeigt, ohne sie ins Verhältnis zu dem zu setzen, dessen häßliches Anderes sie sind. Daß Kippenberger ein guter Kunstkritiker hätte werden können, ist eine von seinen Freunden ebenso häufig gemachte Beobachtung wie die, die zu den vielen Geschichten über seine einmalige Art des Tanzens oder die Ähnlichkeiten seines mimischen Talents mit dem des Jack Nicholson geführt haben.

In hoher Geschwindigkeit verstand er es, die relevanten, Bedeutung regelnden Rahmen und Regeln einer Arbeit zu erkennen und zu ermessen und ermitteln, wie und wo sie aus Verletzungen oder Übertreibungen der zur Aufrechterhaltung derselben Gesten nötigen Maßnahmen Sinn und Transzendenz unterbringen wollten. Seine immanenten Lektüren waren so verblüffend und virtuos, wie sie oft jeden anderen (inhaltlichen, historischen, politischen etc.) Bestimmungsgrund ausschlossen. Man hätte manche seiner Einschätzungen, die immer nahe an Namen und Urheberschaften und deren Geschichte blieben, biographistisch nennen können. Aber gerade seine Wiedergabe von Künstlerbiographien tendierte viel mehr dazu, diese auf ihre wesentlichen kunstfähigen Ideen - egal ob sie nun in Arbeiten, der Frisur oder Inneneinrichtung des oder der Betreffenden realisiert worden sind - zu reduzieren und jedes weitere Verhalten davon abzuleiten, als umgekehrt, die Bedeutung von Arbeiten aus der Biographie zu erschließen. Das wirkte nur immer so, wenn das Biographische in seinen Beschreibungen als geronnene Summe des Künstlerischen die Gestalt eines Slogans oder den Namen einer Angewohnheit angenommen hatte. Gerade weil es so eine entscheidende Kategorie für seine Arbeit, sein Werk und sein Denken war, tat Kippenberger weniger Kunst Unrecht, die er etwa biographistisch verkürzt hätte - er deckte die Logik der meisten Arbeiten auch ganz entfernter Bereiche schnell auf -, als vielmehr Biographien, die er auf künstlerbiographisch Relevantes verkürzte.

Von Politik verstand Kippenberger nicht so viel. Sein Großonkel, ein in Peter Weiss „Ästhetik des Widerstands" öfters auftauchender KP-Veteran, war ihm eher gut für desillusionierende Döntjes über den deutschen Parteikommunismus. Die einzige Politik, die ihn interessierte, war die interne des Kunstbetriebs und ihr unmittelbarer Bezug zu Arbeiten und Verhalten. Er legte dabei dieselben immanenten und den Betreffenden ein nur begrenztes Kalkül zugestehenden Maßstäbe an, die ihn als Kunstkritiker einzelner Arbeiten oft so treffsicher sein ließen und die sich gegen ihn selbst wandten, wenn sie aus einer anderen Perspektive eingesetzt wurden. Er wußte eine Menge von Macht, Hierarchie, Verwicklung und Verstrickung, und sein Verdienst war, daß er in Arbeiten zeigte, daß dies ein Teil des in jeder Idee übrig bleibenden Überwundenen in ihren Rahmenbedingungen ist, dessen Wahrnehmung diese Idee naturgemäß zu unterdrücken versucht. Kippenberger ließ keinen Zweifel daran aufkommen - weder in seiner Arbeit, noch in seinem Leben -, daß ohne Machtverhältnisse das alles nicht nur nicht produziert worden wäre, sondern auch daß man das nicht vergessen dürfte. Doch während er oft so zu tun schien, als wäre ein beständiges, so anarchisches Inszenieren wie affirmatives Beschwören dieses Umstands, eine oder die Möglichkeit, ihn - nicht nur im Sinne Foucaults - produktiv zu machen, zeigten seine Arbeiten Wege, wie sich gerade in den von der Persistenz der „falschen" Bedingungen des Anderen und Neuen abgeworfenen Trümmern, falschen Idealen und verhüllten Häßlichkeiten das Material finden läßt, dieses Verhältnis zu öffnen, in die Schwebe zu bringen, wenigstens aber benennbar und greifbar zu machen. Er hat etwas gewußt, das keine andere künstlerische oder außerkünstlerische Position mit solcher Dringlichkeit hat bekannt machen wollen.

Manchmal habe ich Angst, daß sein Tod in seiner Welt zu ähnlichen Verödungen führen wird, wie Fassbinders Tod damals in der Welt des Kinos. Anmerkungen 1) Dieses Modell ist aber nicht nur naiv, ein guter Nachbar des Ressentiments, es ist andererseits auch attraktiv und zwar vor allem für künstlerische Darstellungen selbst, u.a. weil es zu Drastik und Komik einlädt und Anschaulichkeiten nicht ausschließt. Mike Kelleys „Pay for your Pleasure" ist vielleicht eine der bekanntesten Inszenierungen des Komplexes, der neben Kelley kaum einen anderen zeitgenössischen Künstler so beschäftigt hat wie eben Kippenberger; in beiden Fällen aber als Gegenstand der Arbeit, nicht als die Arbeit ersetzendes, neues Leben-Kunst-Modell. Natürlich kann man außerdem immer Zusammenhänge zwischen historischen Absichten, etwas durchzusetzen, und der tatsächlichen Durchsetzung Jahre später entdecken.

Kippenberger in diesem Sinne die „Schuld" an Tiefpunkten von RTL-Drastik-Humor zu geben, wäre aber so sinnvoll und folgerichtig, wie Beuys jeden Stuttgarter Anthroposophen-Irrsinn oder Warhol alles, was heute „mit Pop-Kultur arbeitet" vorzuhalten. 2) Man denke etwa an das zur Rotterdam-Ausstellung 1994 erschienene Interview-Buch „b" - ein Verweis auf Warhols „a" und „From A to B and back again" -, das immer so behandelt wurde, als wäre es ein journalistisches Interview und die darin Kippenberger zuschreibbaren Äußerungen „nichtkünstlerische", ungebrochene und nicht relativierte Statements. 3)

Das altbekannte Phänomen: Das Ende von Techno, der Tod des RocknRoll, das Vorübersein des Poststrukturalismus etc. wird immer weitaus größer verhandelt und gefeiert als deren jeweiliges Wirken zu Lebzeiten. Noch eine Lebendigkeit, die sich unserem Zugriff entziehen könnte weniger! Nichts ist offenbar so schön und ungefährlich, wie von seiner Unbeeindrucktheit zu erzählen. 4) Das neue Lettre, Heft 36, mit seinen Illustrationen von Haralampi Oroschakoff schenkt mir ein gutes Beispiel für die Unterschiede der Inszenierungen von Ebenen und Rahmen zwischen Kippenberger und anderen. Auch dieser Künstler hatte die Idee, auf Hotelbriefpapier zu arbeiten, aber er zelebriert diese Idee ungebrochen als freche, künstlerische Eingebung, die als solche einen Wert an sich hat, nicht als Exempel für das Elend des Konzepts des „Einfalls" wie Kippenberger, und hält sie darüber hinaus klassisch für einen Königsweg zu einer ominösen Inhaltlichkeit. Er wählt ein spezifisches Hotel, das bekannte Chateau Marmont in Los Angeles, und er aquarelliert spezifisch poppige Politikonen (Leila Khaled, einen dicken US-Bullen etc.). Künstlerische Idee samt konform verspielter Inhaltlichkeit bleiben als Konventionen erhalten, ohne sich als solche zu erkennen zu geben. Kippenberger demütigt dieselbe Idee durch gnadenlose Wiederholung, treibt den so dargestellten Gegenständen wirklich den Anspruch aus, als Repräsentationen eines Inhalts gelten zu können, verweist statt dessen nur massiv auf die Eitelkeit so eines Unterfangens. Natürlich setzen diese immer wieder aufgenommenen und für unterschiedliche Projekte eingesetzten Hotel-Briefpapiere darüber hinaus einen nicht umgehbaren Rahmen, der etwas über Lesarten und Lesbarkeiten von Kippenbergers Arbeit überhaupt aussagt.